Mit Abitur zu studieren ist heutzutage selbstverständlich? Für Arbeiterkinder nicht. Katja Urbatsch zeigt in diesem Buch anhand von Fallbeispielen, auf welche Hürden Kinder aus nichtakademischen Familien stoßen und für sie ein Studium alles andere als selbstverständlich machen.
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Originaltitel: „Ausgebremst: Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt“
Seitenzahl: 224 Seiten
Verlag: Heyne Verlag,
Veröffentlichungsdatum: 11. Oktober 2011
Gleiches Recht auf gleiche Bildungschancen? Weit gefehlt!
An unseren Hochschulen studieren überwiegend Akademikerkinder. Kinder aus Familien ohne akademischen Hintergrund sind mit zahlreichen Bildungshürden konfrontiert. Immer noch ist die Überzeugung weit verbreitet, dass die Herkunft über unser Potenzial bestimmt. Katja Urbatsch studierte als Erste in ihrer Familie und zeigt, was sich ändern muss, damit endlich das Recht auf Bildung für alle gilt.
Inhalt
Gibt es eine systematische Benachteiligung von Kindern aus Familien ohne akademischen Hintergrund gegenüber Akademikerkindern? Die ungleiche Behandlung lässt sich anhand von wissenschaftlichen Studien belegen. Mit vielen Fallbeispiele untermauert Katja Urbatsch in diesem Buch, wie häufig Nicht-Akademikerkinder auf Bildungshürden treffen – und wie schwierig dadurch der Weg zum Studium wird. Denn obwohl das Potenzial vorhanden war, trauten viele ihnen das Studium aufgrund ihrer Herkunft nicht zu. Ist das ein gerechtes Bildungssystem?
Ein „Vorwort“ zur eigentlichen Rezension: Bildungsgerechtigkeit
Das Thema Bildungsgerechtigkeit bietet eine Menge gesellschaftlichen Sprengstoff. Ob ein Kind aus einer Akademiker- oder Arbeiterfamilie stammt, macht einen gewaltigen Unterschied, ob eine Gymnasialempfehlung erteilt wird – und ob diese befolgt wird.
Die Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchungen (IGLU) von 2001 und 2006 haben wissenschaftlich belegt, dass Schüler aus Nicht-Akademikerfamilien deutlich höhere Leistungen erbringen müssen, damit Lehrer und Eltern bereit sind, sie aufs Gymnasium zu schicken. Während Lehrer für die höchste soziale Schicht eine Gymnasialempfehlung ab 537 Punkten aussprechen, tun sie es bei der niedrigsten Schicht erst ab 606 Punkten. Die Eltern in der höchsten Schicht wollen schon ab 498 Punkten ihr Kind zum Gymnasium schicken, während sie es in der niedrigsten Schicht erst ab 614 Punkten wollen. Wer kann bei einem Unterschied von etwa 100 Punkten noch behaupten, dass unser Bildungssystem gerecht nach Leistung entscheidet?
An dieser Stelle möchte ich ein gern gebrachtes Argument direkt entkräften. Ich verweise auf diesen ZEIT-Artikel zum Thema Vererbung von Intelligenz.
Ich finde dieses Thema aus meiner eigenen Erfahrung heraus sehr wichtig, denn auch ich habe als Erste in meiner Familie studiert. Deswegen engagiere ich mich seit mehreren Jahren in der Initiative ArbeiterKind.de und kenne Katja Urbatsch persönlich. Ich kenne den Weg der beruflichen Bildung aus eigener Erfahrung. Wenn ich als Mentorin für ArbeiterKind.de an Schulen oder auf Messen unterwegs bin, betone ich immer wieder, dass beide Wege ihre Vor- und Nachteile haben. Je nach Mensch kann eine Ausbildung der bessere Weg sein – dies wird auch immer wieder von anderen Mentoren aufgezeigt.
Meinung
Doch nun zum Buch selbst: Positiv gefallen haben mir in „Ausgebremst“ die vielen anschaulichen Beispiele aus der Erfahrung der Mentees. Es ist wirklich erschreckend zu lesen, wie unsensibel und demotivierend viele Beratungsstellen an Hochschulen mit finanziell schlecht aufgestellten Menschen umgehen. Diese möchten gern studieren, aber aufgrund fehlender finanzieller Unterstützung durch das Elternhaus müssen sie sich selbst finanzieren. Statt auf BAföG und Stipendien zu verweisen, wird zu häufig ganz vom Studium abgeraten. Und das sollte meiner Meinung nach wirklich nicht sein: Dass der Geldbeutel über die Aufnahme eines Studiums entscheidet, nicht das Potenzial eines Menschens.
Doch noch gravierender sind Lehrer, die meinen, anhand einer Momentaufnahme abschließend beurteilen zu können, ob ein Mensch zu einem Studium fähig ist. Anstatt die Schüler und Schülerinnen zu motivieren, ihre Leistungen zu steigern, damit sie später studieren können! Wer sich die Geschichten der Mentees durchliest, freut sich zwar, dass diese trotz häufig unnötiger Umwege erfolgreich ihr Abitur gemacht haben. Und nun ebenso erfolgreich studieren – auch wenn häufiger mit leeren Magen, da das BAföG-Amt sie einfach immer wieder monatelang auf ihr Geld warten lässt.
Eine Schwäche des Buches ist meiner Meinung nach, dass es sich zu sehr auf Fallbeispiele stützt. Das macht es zwar sehr anschaulich, aber einzelne Lebensgeschichten lassen sich immer leicht beiseite wischen. Dabei gibt es durchaus eine Menge Zahlenmaterial zum Thema strukturelle Benachteiligung von Nicht-Akademiker-Kindern. Außerdem ist das Buch von 2011 und daher etwas veraltet. Auch wenn vieles leider weiterhin aktuell ist, sind die dort öfters erwähnten Studiengebühren zum Glück derzeit fast kein Thema mehr.
Zusammengefasst macht „Ausgebremst“ deutlich, dass wir unser Bildungssystem dringend umstellen müssen. Nicht die Bildung der Eltern und ihre Nachhilfefähigkeiten (ob selbst oder durch bezahlte Nachhilfe) sollten über den Bildungsweg entscheiden – sondern die Leistungen der Schüler. Wenn ein Schüler zwar nur eine Zwei hat, aber nicht mal einen Computer in seinem Zuhause hat, dafür sein Zimmer jedoch mit drei lärmende Geschwistern teilt, dann ist das als eine hervorragende Leistung anzusehen! Auch sollte die Finanzierung des Studiums von der Kooperation des Elternhauses entkoppelt werden. Abgesehen von individuellen Schicksalen profitieren wir als Staat sozialökonomisch von Investition in Bildung (sage ich als Sozialwissenschaftlerin).
Empfehlung?
Wer die Hürden für Arbeiterkinder auf dem Weg zum Studium besser verstehen will, bekommt durch dieses Buch einige Denkanstöße. Ich würde es allen empfehlen, die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Bildungsweg begleiten.
In einem Satz
„Ausgebremst“ ist ein Buch, welches anhand persönlicher Schicksale aufzeigt, wie Nicht-Akademiker-Kinder auf dem Weg zur höheren Bildung an vielen Stellen ihres Weges regelrecht sabotiert werden.
Zur Autorin
Katja Urbatsch studierte als Erste in iher Familie. Sie bemerkte während ihres Studiums, dass ihr immer wieder wesentliche Informationen fehlten, die ihre KommilitionInnen aus akademischen Elternhäusern besaßen. Sei es das Wissen darum, wie man eine Hausarbeit schreibt, oder dass es überhaupt so etwas wie Stipendien gibt. Sie entschloss sich, ihr neues Wissen weiterzugeben und baute schließlich eine Homepage.
Als Katja Urbatsch die Homepage ArbeiterKind.de online stellte, stieß sie auf ein überwältigendes Echo. Denn viele Journalisten, Politiker und Beschäftigte an Hochschulen haben selbst als Erste in ihrer Familie studiert und waren dabei auf ähnliche Schwierigkeiten gestoßen. So entstand die Initiative ArbeiterKind.de. Diese hat sich zur Aufgabe gemacht, Bildungshürden abzubauen und über Finanzierungsmöglichkeiten wie BAföG und Stipendien aufzuklären.
In der Initiative ArbeiterKind.de engagieren sich mittlerweile über 6.000 Mentoren in 75 lokalen Ortsgruppen. Die meisten von ihnen haben selbst als Erste in ihrer Familie studiert und dienen mit ihren eigenen Bildungsaufstieg als Vorbild für andere.
Jeder kann mitmachen, wir freuen uns auch über Berufstätige!
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