Warum die Flüchtlingskrise keine ist – eine Argumentationshilfe II

Von Ggia - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45246844

Nachdem der erste Beitrag zu „Warum die Flüchtlingskrise keine ist – eine Argumentationshilfe“ ein so breites Echo erfahren hat, möchte ich in der zweiten Ausgabe Gegenargumente zu den in den Kommentaren zitierte Äußerungen von „besorgten Bürgern“ an die Hand geben. Denn diese Aussagen können natürlich verunsichern, aber mit Fakten seid Ihr dann gut gerüstet, um in Diskussionen zu kontern!

Nachfolgend habe ich mir fünf klassische „Ausrufe“ rausgepickt, die von einem bestimmten Lager gerne vorgebracht werden. Um den Artikel lesbar zu gestalten, aber dennoch fundiert zu antworten, habe ich dabei versucht, einen Mittelweg zwischen prägnanten Aussagen und der ausführlichen Untermauerung mit Belegen zu finden.

1. Dass sind doch alles falsche Flüchtlinge, wenn die ihre Papiere wegwerfen!

Es gibt tatsächlich Fälle, wo bewusst die persönlichen Dokumente weggeworfen werden. Dass hier so viele Menschen ohne Ausweispapiere ankommen, liegt jedoch überwiegend an anderen Gründen.

Zum Beispiel lebten und leben mehrere hunderttausend Kurd*innen in Syrien staatenlos, da sich der syrische Staat sich lange weigerte, diese als Staatsbürger anerkennen. Dann war die Anerkennung unter bestimmten Bedingungen möglich, aber nur für eine Teilgruppe. Wenn sich eine Person genauer dafür interessiert, bekommt sie im Wikipedia-Artikel Kurden in Syrien einen guten Überblick. Jedenfalls war es für viele kurdische Syrier*innen schon für dem Syrien-Konflikt unmöglich, an Ausweispapiere zu kommen und die Schuld dafür lag nicht bei ihnen. Und da der Syrien-Konflikt besonders in den von Kurd*innen bewohnten Gebieten wütete, ist es auch wenig verwunderlich, dass viele dieser staatenlose Menschen zu uns kamen.

Ein weiteres Problem sind die Schlepper*innen. Diese verlangen von ihren „Kund*innen“ die Abgabe der persönlichen Papiere, andernfalls wird der Zutritt zum Boot verweigert. Da die Menschen in keiner Position zum Verhandeln sind, geben sie diese also notgedrungen ab. Nach der Ankunft bekommen sie diese jedoch nicht immer wieder, da die Schlepper*innen diese auch gern einbehalten, um sie weiterzuverkaufen.

Zudem sind dann noch die Umstände einer Flucht. Waren zum Fluchtzeitpunkt aktuelle Papiere vorhanden und lagen griffbereit oder sind sie beispielsweise bei einer Bombardierung unter Schutt verloren gegangen, wenn überhaupt vorhanden? Auch in Deutschland leben reichlich Menschen ohne aktuelle Ausweise, da sie diese nie benötigen. Unterwegs geht auch mal Gepäck verloren, insbesondere bei der Reise über das Mittelmeer bleibt auch nicht alles trocken.

Ich möchte an dieser Stelle auch nicht verschweigen, dass die Wichtigkeit von persönlichen Dokumenten unerwünschte Nebenwirkungen zeigt: Viele Heimkehrer*innen nach Syrien verkaufen ihre deutschen Pässe an Syrier*innen, die nach Deutschland kommen wollen. Mehr dazu in einem SPON-Artikel „Warum Flüchtlinge ihre Identitäten verkaufen„. Der praktisch nicht-existente Familiennachzug setzt völlig falsche Anreize.

2. Sieht man doch an den jungen, alleinstehenden Männern, dass das keine echte Flüchtlinge sind! / Echte Flüchtlinge können sich keine Schlepper leisten!

Häufig legen ganze Familie zusammen, um einer einzelnen Person die Reise zu bezahlen. Dabei fällt die Wahl meist auf ein junges, männliches, kräftiges Familienmitglied. Der Gedankengang dahinter ist ziemlich offensichtlich: Ein junger Mann übersteht die Strapazen einer solcher Reise vermutlich am besten, läuft eher weniger die Gefahr einer Vergewaltigung, passt sich den Erfordernissen im neuen Land wahrscheinlich leichter an und findet noch am schnellsten Arbeit. Wenn er erst einmal angekommen ist, kann er die Familie dann legal nachholen, die dann nicht den gefährlichen Weg wie er nehmen muss. Da der Familien-Nachzug aber ausgesetzt wurde, muss nun der Rest der Familie bleiben, wo er ist. Oder es wird weiteres Geld zusammengekratzt, was dann zu Frauen und Kindern in den Booten führt …

3. Die sind doch völlig hirnverbrannt, dass sie die Reise über das Mittelmeer wagen!

Da spielen verschiedene Faktoren mit rein. Ein kleiner Teil hat schlichtweg keine Ahnung, wie groß das Mittelmeer ist. Manche waren noch nie am Meer und haben diesbezüglich kein Vorstellungsvermögen. Andere unterschätzen die Ausmaße des Mittelmeeres gewaltig. Ein größerer Teil sieht sich jedoch in der Situation, dass das Transportmittel bei Fahrtantritt nicht den Erwartungen entspricht. Das Geld zurück gibt es aber nicht, wenn einer Person das zu unsicher scheint. Jemand anderes zu bezahlen, in der Hoffnung auf ein sichereres Boot, können sich die wenigstens leisten. Daher steigen viele ein.

Das gilt vor allem für Menschen aus Afrika. Denn in Libyen zu bleiben ist keine Option, in den Lagern dort herrschen mit den Menschenrechten unvereinbare Bedingungen.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte und die Polizeimission der EU für Libyen haben bestätigt, dass in den Lagern gefoltert und vergewaltigt wird. Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Männer als Arbeitssklaven versteigert.

Quelle: ZEIT Online

Und diese Lager sind noch nicht einmal das schlimmste Schicksal, dass Flüchtlingen droht.

Nach Einschätzung von IOM-Chef Belbeisi ist die Internierung in einem Lager jedoch keinesfalls das schlimmste Schicksal, das Migranten in Libyen droht. Die größte Gefahr drohe ihnen von bewaffneten Banden. „Die Menschenhändler brauchen keine Gefangenenlager. Sie ziehen durch die Straßen, schnappen sich hundert Migranten und verschleppen sie zum Arbeiten auf eine Farm“, berichtet Belbeisi. „Das ist für bewaffnete Gruppen ein ganz alltägliches Geschäft.“

Quelle: Spiegel Online

Durch die Abriegelung des Mittelmeeres wird daher vor allem eins erreicht: Es sterben mehr Menschen in der Wüste. Im ZEIT Online Artikel „Weniger Tote auf dem Meer bedeuten mehr Tote in der Wüste“ lässt sich nachlesen, was die Deals der EU-Staaten mit den afrikanischen Staaten für Folgen haben.

4. Wenn der Herkunftsstaat als sicher eingestuft ist, gibt es keine Verfolgung!

Zunächst einmal steht die Frage im Raum: Was ist ein sicherer Herkunftsstaat? Es ist ein Staat, der von der Politik so eingestuft wurde. Dahinter steht die Annahme des Gesetzgebers, dass eine politische Verfolgung dort nicht stattfindet. Welche Staaten stehen auf der Liste der sicheren Herkunftsstaaten? Neben den Staaten der EU die fünf Westbalkanstaaten Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien, Montenegro, Albanien, sowie das Kosovo; außerdem die afrikanischen Staaten Ghana und Senegal. Eine Reihe von diesen Staaten gelten als Hybridregime beim Demokratieindex. Warum stehen auf der Liste der sicheren Herkunftsstaaten zum Beispiel nicht Island, Kanada oder Norwegen darauf? Das sind schließlich Staaten mit den höchsten Punktzahlen beim Welt-Demokratie-Index und somit ausgesprochen sicher. Es lässt sich daher schon mal festhalten: Die Liste ist höchst selektiv und zumindest die Stärke der Demokratie scheint kein Merkmal zu sein, dass eine Rolle spielt.

Interessant ist zudem auf jeden Fall jeweils der zeitliche Zusammenhang, wann neue Staaten hinzugefügt werden. Als Begründung für die Einstufung von beispielsweise Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien diente nämlich steigende Flüchtlingszahlen und geringe Anerkennungsquote. Ziemlich absurd. Warum?

Einer der Hauptkritikpunkte an dem Prinzip ist, dass es lediglich dazu diene, Asylanträge beschleunigt abzulehnen und Asylsuchende somit schneller abzuschieben. Eine gesetzlich garantierte Einzelfallprüfung sei so nicht möglich, die Einspruchsfrist betrage laut Gesetz lediglich eine Woche. Könne das begründete Ersuchen von Asyl nicht belegt werden, bestünde unverzügliche Ausreisepflicht, Klagen hätten keine aufschiebende Wirkung, sodass eventuelle Prozesse aus dem Ausland zu führen seien. So sei das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten als solches nicht nachvollziehbar, denn allein die Herkunft eines Asylsuchenden könne nicht über dessen Verfolgung bzw. Verfolgungsfreiheit entscheiden. Das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten widerspreche somit grundsätzlich dem als Individualrecht konzipierten Asylrecht.

Quelle: Wikipedia

Wenn mit dieser Begründung ein Staat erst einmal auf der Liste der sicheren Herkunftsstaaten gelandet ist, ist es praktisch unmöglich, dass er wieder herunter genommen wird. Denn wie soll unter solchen Bedingungen die Anerkennungsquote nicht verschwindend gering sein. Wenn also ein Roma oder ein Mensch aus anderen Bevölkerungsgruppen, die aus individuellen Gründen verfolgt werden, hier bei uns erfolgreich Asyl durchsetzen möchte, braucht er einen Anwalt, somit jede Menge Geld und Zeit.

Lange Rede, kurzer Sinn: Die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat ist ein politisches Instrument, welches keinen objektiven Kriterien unterliegt, und dessen Zweck es ist, Flüchtlingszuströme zu begrenzen. Deshalb hebelt es die Beschäftigung mit individuellen Asylgründen aus und beschneidet somit die Rechte von Asylbewerbern, die kaum Gelegenheit mehr bekommen, ihre Gründe vorzubringen.

In einer Diskussion zu dem Thema empfehle ich am besten mal nachfragen, warum denn ausgerechnet diese Aussage von Politikern zur Sicherheit auf einmal glaubwürdig sein soll.

5. Es wird kaum abgeschoben!

Zunächst einmal sind ziemlich viele abgelehnte Asylbewerber vor Abschiebung geschützt. Wenn Personen, die verpflichtet sind, das Bundesgebiet zu verlassen, aber dies aus tatsächlichen, rechtlichen, dringenden humanitären oder persönlichen Gründen nicht können, werden sie geduldet. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine mindestens zweijährige Ausbildung aufgenommen wird oder dass die Herkunft nicht geklärt werden kann (was oft genug der mangelnde Mitwirkung der Herkunftsstaaten geschuldet ist). Ausländer mit Duldung dürfen, sobald sie drei Monate geduldet wurden, mit Erlaubnis der Ausländerbehörde sogar eine Beschäftigung aufnehmen, wenn sie keinen Einheimischen einen Arbeitsplatz „wegnehmen“. Durch diese Beschäftigung haben die geduldeten Ausländer dann sogar die Chance, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es einen ausführlichen Artikel zum Thema Duldung.

Jedenfalls bleiben dadurch von 235.000 ausreisepflichtigen Personen nur noch 61.000 über, die keine Duldung besitzen und somit tatsächlich abgeschoben werden dürfen. Auf dem Luftweg wurden im ersten Halbjahr 11.000 Personen abgeschoben, zudem wurden etwas mehr als 1.000 Personen auf dem Land- und Seeweg überstellt. Diese und weitere Zahlen lassen sich einer Kleinen Anfrage zu Abschiebungen und Ausreisen im ersten Halbjahr 2018 entnehmen. Es lässt sich also sagen, dass etwa bei einem Fünftel der abzuschiebenden Personen ein Versuch diesbezüglich unternommen wurde. In der Antwort zur kleinen Anfrage steht auch drin, aus welchen Gründen wie viele Abschiebungen gescheitert sind, zusammengenommen sind das noch knapp einmal 1.000 Personen. Jedoch könnte es in diesen Fällen ja auch mehrere Versuche mit derselben Person gegeben haben.

Bei Zeit Online habe ich eine spannende Infografik zur Abschiebequote nach Bundesländern 2017 gefunden. Jedenfalls sehen da die angeblich so konsequente Abschiebung bedachten Bayern nicht mehr so gut aus. Selbst das bis vor kurzen rot-grüne Nordrhein-Westfalen liegt bei der Quote dicht hinter ihnen, hat aber dafür auch fast mehr als doppelt so viele Menschen abschieben müssen. Generell empfiehlt sich auch ein Blick auf die absoluten Zahlen, um die Quoten ins richtige Verhältnis zu setzen.

Mehr Argumente gesucht?

Viele soziale Organsiationen haben ebenfalls Argumentationsleitfäden verfasst, zum Beispiel PRO ASYL, Amadeu Antonio Stiftung, IG Metall, ver.di und der Respekt!-Initiative der IG Metall gemeinsam.

Zum Schluss: Dein Feedback!

Was denkst du: Helfen dir meine Argumente weiter? Was siehst du anders? Zu welchen klassischen „Ausrufen“ wünschst du dir noch Argumentationshilfe?

Ich freue mich auf Eure Antworten!

6 Kommentare

  1. Also Nummer 2 finde ich ja richtig dämlich und zum Glück ist mir das Argument noch nicht begegnet :D. Argument 3 finde ich ja eh richtig schlimm. Dass Menschen eine so gefährliche Flucht wagen zeigt ja nur noch mehr, wie verzweifelt die meisten sind und welche grausamen Zustände auch vor Ort herrschen.

    Ansonsten aber wieder gut Recherchiert. Das mit den sicheren Herkunftsstaaten ist ein Argument das mir auch oft begegnet bzw. hört man ja auch das mit den Abschiebungen richtig oft. Schade, dass viele sich halt wenn sie mit sowas ankommen null über die Sachlage informiert haben.

    Ganz schlimm finde ich aber auch die Aussagen a la die bekommen mehr Geld als wir oder sie bekämen alle kostenlos iPhones. Das stimmt ja auch beides nicht. Und auch das sich viele beschweren, dass Flüchtlinge ja Markenklamotten tragen bringt mich immer zum Lachen, denn bei den Kleiderspenden sind natürlich auch Markenklamotten dabei – soll man die wegwerfen?

    • Punkt 2 ist mir leider viel zu oft in Foren begegnet, auch wenn es derzeit nicht mehr so oft diskutiert wird. Und bei Nummer 3 denke ich so wie du, die Menschen müssen wirklich ziemlich verzweifelt sein, wenn sie in solche Boote steigen.

      Grad bei den sicheren Herkunftsstaaten bezweifle ich, dass da bei bestimmten Lagern überhaupt Interesse daran besteht, sich damit auseinanderzusetzen. Klingt ja so für sich auch erst einmal super …

      Oh ja, die iPhones und die Markenklamotten… Smartphones sind nun einmal super wichtig in der heutigen Zeit, grad zum Kontakt halten. Und da der Schrott von H&M, Kik, Primark und Co. oft sehr schnell kaputt geht, ist doch klar, dass bei den Kleiderspenden vermehrt „hochwertige“ Marken dabei sind. So mal ich das eh für eine Verzerrung der Wahrnehmung halte, ich sehe gefühlt ganz häufig die billigsten Klamotten.

  2. Das „Smartphone“-Argument (egal, ob nun die Behauptung, die Geflüchteten bekämen es vom Amt geschenkt, oder die Aussage, dass es ja so schlimm nicht im Ursprungsland gewesen sein kann, wenn man sich ein solch teures Gerät leisten kann) finde ich auch immer wieder unfassbar und zum Thema „sicheres Herkunftsland“ könnte ich Feuer spucken …

  3. Total cool, dass du die Argumente und die Erklärungen, weshalb sie falsch sind, nochmal in einem Beitrag auflistest und dabei eine Möglichkeit zum Zurechtlegen von Strategien bei Familientreffen und anderen Orten mit solchen ekligen Kommentaren gibst. Danke 🙂

    • Vielen Dank für deinen Kommentar 🙂 Ich kenne das von mir selbst, wenn ich plötzlich in einer Diskussion bin, ist mein Kopf leer. Da sind vorbereitete Argumente echt eine große Hilfe. Teil 1 hast du auch gelesen?

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