Gestern morgen kam mir diese bitterböse Weihnachtsgeschichte in den Sinn. Ich habe sie noch am selben Tag aufgeschrieben und Feedback eingeholt. Daher kann ich Euch heute eine neue Ausgabe der Schreibfunken präsentieren. Wie immer ist Feedback erwünscht.
Das letzte Weihnachten
Der alte Mann saß im Sessel vor dem Kamin und dachte an letztes Jahr Weihnachten. Mit seinen vier Kindern hatte er besprochen, dass es das letzte gemeinsam verbrachte Fest sein könnte. Er hatte eingewendet, dass er auch ganz gut allein zurechtkäme. Doch seine Töchter hatten sich sehr gesorgt, dass er dann einsam wäre. Deshalb kamen sie alle und brachten ihren Anhang mit. Louisa mit ihrem Ehemann Maximilian, den sie alle nur „Marathon-Max“ nannten, sowie ihre beiden Kinder. Hilde nahm mit ihrem Bruno und ihrer Rasselbande die Anreise aus Sachsen auf sich. Den weitesten Weg hatte fraglos Martha aus den USA, die es dieses Mal einrichten konnte, an Weihnachten nach Hause zu kommen.
An der weihnachtlichen Festtafel hatten sie über Corona geredet. Max hatte sich darüber ausgelassen, dass die ganzen Maßnahmen unnötig seien, schließlich stürben in den allermeisten Fällen nur vorerkrankte Personen, die sowieso nicht mehr lange gehabt hätten. Seine Ausführungen endeten erst, als Louisa mit honigsüßer Stimme einwarf, wie sehr sie doch hofften, dass Papa noch sehr lange lebe. Hilde verlieh ihrer Sorge Ausdruck, dass die Nebenwirkungen von diesen neumodischen Impfstopf komplett unabsehbar seien. Sie würde ihre Kinder da auf keinen Fall zu Versuchskaninchen machen. Bruno brummte zustimmend und berichtete anschließend von seinen Demo-Besuchen in Dresden, wo er sich für die Meinungsfreiheit eingesetzt hatte. Martha beklagte die Einschränkungen, die es ihr sehr erschwerten, als Reise-Influencerin tätig zu werden. Schließlich fördere sie damit die darbende Tourismus-Branche.
Vielleicht hätte der alte Mann erwähnen können, dass er als Proband an einer Impfstoff-Studie teilgenommen hatte und er sich deshalb wenig Sorgen machte, dass er an Corona erkranken könnte. Aber wann waren seine Töchter das letzte Mal freiwillig alle zu ihm gekommen? Doch der Besuch erinnerte ihn, warum ihn es die Jahre davor auch nicht sehr gestört hatte, wenn der Weg zu weit gewesen war. Ähnlich wie ihre Eltern wegen dem Erbe kamen die Kinder seiner Töchter nur wegen der Geschenke.
Die Nachrichten nach Weihnachten überraschten ihn wenig: Zunächst wurde Luisa krank und dann Max. Obwohl ein exzellenter Marathon-Läufer, hatte er sich nie sportärztlich untersuchen lassen und fand auf der Intensivstation heraus, dass er an Vorerkrankungen litt. Auch ein Jahr später war an Training für Marathons nicht zu denken. Hildes Kinder hatten einen leichten Schnupfen, bevor es Bruno erwischte, und noch, als er an die Beatmungsgeräte angeschlossen wurde, den Virus als harmlose Grippe abgetan. Der alte Mann hatte angesichts der Umstände seine Kondolenz per Post geschickt. Die Schwestern sprachen nicht mehr miteinander, denn insgeheim hatte jede die andere in Verdacht, den Virus an Weihnachten eingeschleppt zu haben.
Es klingelte und der alte Mann ging nach einem Blick auf das bereitliegende Testament zur Tür, um sie für seinen Weihnachtsbesuch zu öffnen. Draußen stand sein Sohn Matthias nebst Familie. Die kleine Jutta stürzte nach vorn und ließ sich von ihm hochheben, während er seine Gäste in die Wohnung geleitete. Nach dem Festschmaus versammelten sie sich im Wohnzimmer und der alte Mann begann: „Verzicht ist manchmal das größte Geschenk.“
Wow, was für eine Geschichte! Ein wenig klingt ja durch, dass die Verwandtschaft hofft, dass der alte Mann sich ansteckt und stirbt, sie selbst aber nicht an all das glauben.
Ist das dann ein Widerspruch?
Auf jeden Fall hast Du vieles hinein gebracht, was momentan da draußen los ist. Vielen Dank dafür. Hat mir sehr gut gefallen.
Und wenn ich das richtig verstanden habe, ist Matthias nicht im Corona-Jahr zu seinem Vater gekommen, sondern erst das Jahr danach? Und deswegen hat der Mann sein Testament ihm zuliebe geändert?
Hallo JED,
vielen Dank für deinen Kommentar! 🙂
Ich habe versucht rüberzubringen, dass die Schwestern und der Anhang die Gefahr, wenn überhaupt, eben für den alten Mann sehen. Und wenn der stirbt, wäre das jetzt nicht so tragisch, weil alte Menschen sterben halt, früher oder später. Sich selbst sehen sie vor allem unnötig eingeschränkt. Sie rebellieren mit dem gemeinsamen Weihnachten auch zu einem gewissen Grad gegen diese Beschränkungen.
Die Geschichte spielt ein Jahr später an Weihnachten und der alte Mann hat die Handlungen seiner Kinder bzw. ihre Wertschätzung für sein Leben beim letzten Weihnachtsfest in seine Entscheidung einfließen lassen, wer erben soll.
Viele Grüße
Elena
Ist es schlimm, wenn ich mich über die ausgleichende Gerechtigkeit gefreut habe? Okay, ja, ist es. Ich bin ein böser Mensch. Aber du hast die Geschichte so geschrieben, also bin ich offenbar zumindest nicht allein mit meiner Bosheit 😀
Gefällt mir.
Hallo Taaya,
nö, ich war ja auch ein bisschen boshaft 😀 Und es sind ja schließlich nur imaginäre Charaktere, wenn auch leider mit realen Vorbildern.
Danke dir 🙂